Progressive Mehrheit Debattenbeitrag Rezension

Harmonie mit Peer


Foto: S. Fischer

Nils Minkmar verbringt den Wahlkampf mit Peer Steinbrück. Am Ende verliert er nicht nur die Distanz, sondern verpasst das Thema.


Politik und Literatur gehen in Deutschland schon lange nicht mehr zusammen. Romane über die Politik entstammen meist der Feder von Polit-Journalisten oder sogenannten Beratern. Das Ergebnis ist in der Regel eine Verschriftlichung der Berliner Gerüchteküche: Intrigen und Affären, Kungeleien mit Lobbyisten, Fremdsteuerung von Volksvertretern. Kurzum: All das, womit Spiegel Online den gelangweilten Büromenschen tagtäglich im Zweistundenintervall traktiert.

Umso vielversprechender liest sich der Klappentext von Nils Minkmars neuem Buch. Dieser hat fast ein Jahr lang den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück im Wahlkampf begleitet. Das Ergebnis sei „eine unvergleichliche Innenansicht des politischen Systems in Deutschland“.

Man denkt sogleich an Laurent Binets Buch Rien ne se passe comme prévu, der den französischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande im Wahlkampf gegen Nicolas Sarkozy beobachtete. Und natürlich an „Frühmorgens, abends oder nachts“ von Yasmina Reza, die sich 2007 über neun Monate an die Fersen von Sarkozy geheftet hat, bis dieser die Stichwahlen gegen Ségolène Royal für sich entscheiden konnte. „Selbst wenn Sie mich verreißen, wird es zu meinem Ruhm sein“, soll Sarkozy im Vorfeld zu dem Projekt gesagt haben. Ironisch, kritisch, manchmal ungläubig, bisweilen mitfühlend, aber immer mit der notwendigen Distanz berichtete Reza über den Typus des herausragenden Politikers. Und auch über den Menschen Sarkozy. Ihr Buch ist bestückt mit Eindrücken und Beobachtungen, wobei kaum ein Gedanke länger als eine Viertelseite ist. Doch gerade damit kommt sie Sarkozy vielleicht am nächsten, der rastlos von Termin zu Termin hastet, fortlaufend neue Ideen ausspuckt und damit Apparate in Bewegung setzt, um wenige Minuten später schon wieder ganz woanders zu sein – sowohl physisch als auch gedanklich.

Nils Minkmar hat Rezas Buch 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen. Leider hat er nicht die richtigen Lehren für sein eigenes Projekt daraus gezogen. Verglichen mit Reza wirkt sein Buch über den SPD-Kanzlerkandidaten konventionell und geht über weite Strecken am eigentlichen Thema vorbei.

Der Feuilletonchef der FAZ hat Steinbrück zu zahlreichen Terminen begleitet. Er war bei Gewerkschaftstreffen und klassischen Wahlveranstaltungen, hat an Auslandsreisen teilgenommen, saß bei Hintergrundgesprächen mit am Tisch, studierte hautnah das Innenleben der Parteizentrale – und beschreibt am Ende doch nur die Themen, über die auch die Presse berichtete. Eine Kostprobe: „Wer der SPD nahe steht, muss noch lange kein Steinbrückanhänger sein, es gibt Steinmeierfans und Gabrielfreunde, die Steinbrücks Kandidatur skeptisch sehen.“ Diese parteipolitische Binsenweisheit ist Ergebnis seiner Überlegungen darüber, ob Programm und Kandidat der SPD womöglich keine ausreichende Schnittmenge gebildet haben. „Es muss zwar irgendwo im Lande ein Steinbrückmilieu geben, aber es ist scheues Wild, man hört und sieht sie nicht“, heißt es da.

Es folgt eine Aufzählung der hinlänglich bekannten Steinbrück-Patzer: die hochbezahlten Vorträge, „Peerblog“, Kanzlergehalt, der Clown-Vergleich mit Silvio Berlusconi und Beppe Grillo, der bereits anderweitig genutzte Wahlkampfslogan der SPD („Das WIR entscheidet“) und zu guter Letzt der Stinkefinger auf dem Cover des Magazins der Süddeutschen Zeitung. All diese in den Medien bereits lang und breit dargelegten Fettnäpfchen reiht Minkmar noch einmal auf. Dabei verpasst er es neue Hintergründe zu liefern. Wie groß Minkmars Ferne zu den Realitäten des politischen Betriebs tatsächlich ist, kann man an seiner Verwunderung über die Vortragshonorare Steinbrücks erkennen. Dass sie nicht als Ausweis einer „wünschenswerten Unabhängigkeit des Kandidaten von öffentlichen Bezügen“ gesehen wurden, sondern als „ein Beweis seiner Gier“. „Willkommen in Deutschland“, möchte man ihm zurufen. Es gab im Deutschen Bundestag vermutlich keine Fraktion – inklusive der eigenen „Parteifreunde“ – die nicht bereits lange vor Steinbrücks Kandidatur ein ausführliches Dossier über dessen lukrative Nebentätigkeiten sowie die daraus resultierenden Fehlzeiten im Parlament in der Schublade hatte.

Minkmar macht kein Geheimnis daraus, dass er sowohl die SPD als auch Steinbrück als Mensch und Politiker mag. Das ist nicht verwerflich. Doch es nimmt seinem Blick die notwendige Schärfe. Ein Beispiel: Mitten im Wahlkampf gab der SPD-Vorsitzende Gabriel der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein sehr persönliches Interview, in dem er (erstmalig) über seine schwierige Kindheit und die Nazi-Vergangenheit des Vaters spricht. Das Interview erschien zu einem Zeitpunkt, als sich der Wahlkampf Steinbrücks in einer tiefen Krise befindet und in der SPD mehr oder weniger offen über seine Ablösung diskutiert wurde. Gabriel wollte für den Fall vorsorgen, dass er kurzfristig als Kandidat einspringen muss. Darüber jedoch verliert Minkmar kein Wort. Stattdessen nimmt er das Interview zum Anlass, ein ebenso freundliches wie harmloses Porträt Gabriels einzuflechten, dessen Bürgernähe er bei einem Besuch in Goslar bewundern durfte. „Eher zufällig ergeben sich Begegnungen mit Menschen, die ihn respektvoll und voller aufrichtiger Freude begrüßen und sich dann als gestandene Handwerksmeister und als Unionsmitglieder entpuppen. Der Höhepunkt der Führung durch Goslar ist die Kaiserpfalz, in der Gabriel auch geheiratet hat.“

Das größte Problem des Buches ist aber nicht seine offenkundige Parteilichkeit, sondern dass lediglich die Hälfte der gut 200 Seiten vom versprochenen Thema handeln: dem Wahlkampf und dem Spitzenkandidaten. Die andere Hälfte nutzt Minkmar für grundsätzliche Reflexionen über den Zustand der SPD, Deutschlands und Europas. „Europa ist kein verarmender Erdteil, sondern, wenn man das Pro-Kopf-Vermögen betrachtet, einer der reichsten der Welt. Bloß steht dieses Vermögen zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben nicht zur Verfügung.“ Das mag richtig sein. Es liefert aber erstens keine neuen Einsichten in die Wahlkampf-Odyssee von Peer Steinbrück und ist zweitens ein bereits zigfach anderswo bemühter Allgemeinplatz. An anderer Stelle erfährt man, dass die „europäischen Spielregeln zu Ungunsten der Lohn- und Gehaltsempfänger manipuliert worden sind.“ Auch das mag irgendwie der Fall sein. Zur versprochenen „Innenansicht des politischen Systems in Deutschland“ trägt es jedenfalls nicht bei. Minkmar verwirrt, indem er Steinbrück als Politiker porträtiert, der „die Exzesse sowohl der Märkte wie der Merkel’schen Austeritätspolitik“ zwangsläufig bändigen werde. War da nicht etwas? Richtig, zwischen 2005 und 2009 gab es in der Großen Koalition bereits einen Finanzminister Steinbrück, der dazu durchaus die eine oder die andere Gelegenheit gehabt hätte. Doch auch dazu kein Wort.

Das zweitschlechteste Abschneiden der SPD bei einer Bundestagswahl deutet Minkmar am Ende des Buches letztlich psychologisch: „In der Krise wächst sich der ohnehin schon starke deutsche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit und konsensualer Politik zu einer regelrechten Harmoniesucht aus, die von Merkel perfekt befriedigt wurde.“ Das passt zwar in dieses rundum harmonische Buch über den SPD-Wahlkampf, ist aber dennoch eine Spur zu einfach.


 

Hier finden Sie die Gegenansicht von Wolfgang Silbermann